Phantomschmerz – Wenn der Schmerz bleibt, obwohl der Körper fehlt

Wie Physio- und Ergotherapie bei Phantomschmerzen nach Amputationen wirksam unterstützen können

Ein Fuß, der brennt – obwohl er längst nicht mehr da ist. Ein Ziehen im Arm, der amputiert wurde. Phantomschmerz ist eines der eindrücklichsten Beispiele dafür, wie stark unser Nervensystem den Körper auch nach einer Amputation weiter „fühlen“ kann – und manchmal auch „leiden“ lässt.

Viele Patient*innen empfinden diese Schmerzen als besonders quälend und irritierend: Wie kann ein nicht mehr vorhandenes Körperteil schmerzen? Und was kann man dagegen tun?

Was ist Phantomschmerz?

Phantomschmerzen sind Schmerzempfindungen in einem Körperteil, der amputiert wurde – also Schmerzen ohne physisches Korrelat. Bis zu 80 % aller Menschen nach einer Amputation erleben sie in unterschiedlicher Intensität und Dauer. Es handelt sich nicht um „eingebildete“ Schmerzen, sondern um eine reale, neurophysiologische Reaktion des Gehirns auf den Verlust.

Häufige Begleitsymptome:

  • Phantomwahrnehmung: Das Gefühl, das Körperteil sei noch da

  • Phantombewegungen: Zuckungen, Verkrampfungen

  • Kribbeln, Brennen, Stechen, elektrisierende Schmerzempfindungen

Warum entsteht Phantomschmerz?

Phantomschmerz ist ein Paradebeispiel für die Plastizität des Gehirns – also die Fähigkeit, sich an veränderte Bedingungen anzupassen. Wird ein Körperteil amputiert, fehlt der Input aus diesem Bereich. Das Gehirn reagiert darauf mit einer Reorganisation der sensorischen Repräsentationen:

  • Die benachbarten Areale im somatosensorischen Kortex übernehmen die verwaiste Region → z. B. übernimmt die Repräsentation der Lippe die Region des amputierten Armes

  • Diese „Verschiebung“ kann zu Fehlinformationen und schmerzhaften Sensationen führen

  • Gleichzeitig bleibt das neuronale Gedächtnis an den Körperteil bestehen – samt Schmerzverarbeitung

Auch das Rückenmark, periphere Nervenstümpfe (Neurome) und psychische Faktoren wie Stress oder emotionale Belastung können Phantomschmerzen verstärken.

Was kann Therapie bewirken?

Auch wenn Phantomschmerzen komplex sind, gibt es vielversprechende Therapieansätze – vor allem durch eine gezielte Kombination aus neurophysiologischer, sensorischer und körperorientierter Therapie.

🟢 Physiotherapeutische Strategien

1. Desensibilisierung und sensorisches Re-Mapping

  • Ziel: das überreizte Nervensystem beruhigen, neuronale Muster neu „programmieren“

  • Methoden:

    • Spiegeltherapie: visuelle Rückmeldung über den intakten Körperteil → Reorganisation des Gehirns fördern

    • Vibrationsreize am Stumpf oder angrenzenden Arealen

    • Berührungsübungen mit verschiedenen Texturen

2. Mobilisation und Stumpfpflege

  • Kräftigung, Dehnung und Mobilisation angrenzender Strukturen

  • Narbenbehandlung, Mobilisation von Haut und Gewebe

  • Linderung von Muskelverspannungen, die sekundär zu Schmerzen beitragen

3. Medical Yoga und Atemtherapie

  • Beruhigung des vegetativen Nervensystems

  • Spannungsregulation durch bewusste Bewegung, Atemverbindung und Körperwahrnehmung

  • Erleben des Körpers „als Ganzes“, trotz Amputation

🟡 Ergotherapeutische Perspektiven

1. Körperbildarbeit & neurokognitive Integration

  • Arbeit mit Körperumrisszeichnungen, Imaginationsübungen („Wie fühlt sich dein Bein heute an?“)

  • Stärkung der Selbstwahrnehmung und Kohärenz zwischen Körpergefühl und Realität

2. Alltagstraining & Pacing

  • Schmerzreduzierende Strategien im Alltag (z. B. Lagerung, Positionswechsel)

  • Energiemanagement bei chronischer Erschöpfung durch den Schmerz

3. Ressourcenarbeit & Umgang mit Triggern

  • Identifikation von Verstärkern (Stress, Kälte, Emotionen)

  • Aufbau positiver, regulierender Tätigkeiten: Musik, Kunst, Gartenarbeit, Atmung

Die Rolle von Schmerzgedächtnis, Amygdala & Hippocampus

Phantomschmerz hat auch eine emotionale und kognitive Komponente:

  • Amygdala (Gefahrenspeicher) ist oft überaktiviert – das erhöht Schmerzempfindlichkeit

  • Hippocampus (Erfahrungsverknüpfung) kann durch Achtsamkeit, Bewegung, Meditation gestärkt werden → bessere emotionale Integration der neuen Körperrealität

Langfristige Therapieziele sollten daher auch Selbstwirksamkeit, Sicherheit und Reorientierung fördern.

Fazit: Phantomschmerz ist real – und behandelbar

Phantomschmerz zeigt, wie stark das Nervensystem auch ohne „realen“ Reiz Schmerzen erzeugen kann – und wie wichtig es ist, ganzheitlich zu behandeln. Physio- und Ergotherapie können helfen, das Gehirn neu auszurichten, das Nervensystem zu beruhigen und neue Wege im Umgang mit dem eigenen Körper zu entdecken.

Nicht der „fehlende“ Körperteil steht im Vordergrund – sondern der noch immer ganze Mensch, der mit allen Sinnen, Ressourcen und Fähigkeiten begleitet werden will.

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