Schmerz und ME/CFS – Wenn selbst Ruhe erschöpft

„Ich bin müde“ – dieser Satz fällt oft, aber selten ist er existenziell gemeint. Bei ME/CFS (Myalgischer Enzephalomyelitis / Chronischem Fatigue-Syndrom) ist Müdigkeit jedoch keine vage Befindlichkeitsstörung, sondern ein lähmender, allgegenwärtiger Zustand. Ein Zustand, der nicht durch Schlaf besser wird, sondern sich oft durch minimale Anstrengung massiv verschlechtert.

Eine stille Erkrankung – mit lautem Körper

ME/CFS betrifft laut Schätzungen über 300.000 Menschen allein in Deutschland – die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen. Viele Patient*innen sind jahrelang auf der Suche nach einer Diagnose, werden falsch behandelt oder als psychosomatisch fehlgedeutet. Dabei ist die WHO eindeutig: ME/CFS ist eine neurologische Erkrankung – mit teils dramatischem Verlauf.

Im Zentrum steht die Post-Exertional Malaise (PEM) – eine drastische Verschlechterung nach bereits geringer Belastung, sei sie körperlich, kognitiv oder emotional. Ein Spaziergang, ein Gespräch, manchmal sogar eine physiotherapeutische Behandlung kann ausreichen, um tagelange Verschlechterungen auszulösen.

Schmerz ist Teil des Syndroms

Auch Schmerzen gehören zum Beschwerdebild: Muskelschmerzen, neuropathische Symptome, Kopfschmerzen, Gelenkbeschwerden – diffus, wandernd, schwer fassbar. Die Schmerzverarbeitung ist häufig zentral sensibilisiert. Hinzu kommen vegetative Symptome wie Kreislaufprobleme, Reizdarm, Herzrhythmusstörungen oder Temperaturregulationsstörungen.

Und dann ist da noch die kognitive Erschöpfung, oft als „Brain Fog“ bezeichnet: Konzentration, Sprache, Reaktion – alles wird mühsam.

Therapie – zwischen Fingerspitzengefühl und Respekt

Für uns Therapeut*innen ist ME/CFS ein Grenzgang: Klassische Konzepte wie Aktivierung, Belastungssteigerung oder funktionelle Übungen greifen nicht. Sie können sogar schaden.

Was also tun?

  • Pacing vermitteln statt Training verordnen

  • Sicherheit bieten statt Ziele setzen

  • Regulation unterstützen statt Funktion fordern

  • Ressourcen erkennen statt Defizite fixieren

Atemarbeit, Körperwahrnehmung, vagusfreundliche Lagerung, Reizabschirmung, passive Mobilisation, energetisch sanfte Impulse – all das kann helfen, wenn es angepasst und respektvoll eingesetzt wird. Die Therapie darf nie „zu viel“ sein. Auch nicht emotional. Auch nicht verbal.

Therapeutische Haltung: Dasein ist Wirken

ME/CFS verlangt von uns nicht nur Fachwissen, sondern vor allem Haltung:

  • Geduld statt Progressionsdruck

  • Vertrauen statt Machbarkeitsglaube

  • Präsenz statt Aktionismus

Wir müssen lernen, nicht zu viel zu tun – und darin wirksam zu bleiben.

Fazit:
ME/CFS fordert eine radikale Umkehr unseres therapeutischen Denkens. Wir begleiten nicht auf dem Weg zur Leistungsfähigkeit, sondern auf dem Weg zu einem stabilen Gleichgewicht im Rahmen dessen, was möglich ist. Kleine Schritte. Große Wirkung. Und manchmal: nur da sein.

🧠 Du willst tiefer in das Thema einsteigen? Dann sei dabei bei meinem Webinar:
„Schmerz & ME/CFS – Zwischen Erschöpfung, Überreizung und therapeutischen Grenzen“

📅 Termine & Anmeldung wie immer auf: www.hockenholz.com/webinare

Weiter
Weiter

Multiple Sklerose – leben mit einem Nervensystem im Wandel