Kinesiophobie – Wenn Bewegung zur Bedrohung wird
„Ich bewege mich lieber nicht – nicht dass wieder was kaputtgeht.“
„Wenn ich mich bücke, kommt der Schmerz zurück – das war beim letzten Mal auch so.“
„Ich würde ja Sport machen, aber ich habe einfach zu viel Angst.“
Diese Sätze begegnen uns in der Praxis täglich. Dahinter steckt oft mehr als reine Vorsicht: eine tief verankerte Angst vor Bewegung – Kinesiophobie.
Der Begriff setzt sich zusammen aus dem Griechischen kinesis (Bewegung) und phobos (Angst) und beschreibt eine psychologische Reaktion, die chronische Schmerzverläufe maßgeblich beeinflussen kann.
Was ist Kinesiophobie?
Kinesiophobie ist die übersteigerte, meist erlernte Angst, dass Bewegung zu Verletzung, Verschlimmerung oder Schmerz führt. Oft entwickelt sie sich nach einem akuten Schmerzereignis, einem Trauma oder einer falschen Information. Sie wird genährt durch unsichere Diagnosen, angstmachende Sprache („Bandscheibenvorfall“, „abgenutzt“, „Instabilität“) oder negative Therapieerfahrungen.
Die Folge:
Vermeidung von Bewegung
Abbau von Muskulatur und Funktion
Zunahme von Schmerzen durch Inaktivität
Steigerung der Angst – ein Teufelskreis entsteht
Warum ist das therapeutisch so relevant?
Kinesiophobie gehört zu den stärksten Prädiktoren für Chronifizierung von Rückenschmerzen, Gelenkbeschwerden und postoperativen Verläufen. Sie beeinflusst Heilung, Lebensqualität und das gesamte Bewegungserleben.
Dabei ist nicht die Angst an sich das Problem – sondern der ungelöste Alarmzustand im System.
Wie erkennen wir Kinesiophobie?
Patienten bewegen sich zu vorsichtig, vermeidend oder unter Anspannung
Sie zeigen ausgeprägtes Sicherheitsverhalten – z. B. stützen, festhalten, vermeiden bestimmter Bewegungen
Sie fragen häufig nach strukturellen Schäden oder bestätigen eigene Defektannahmen
Fragebögen wie der TSK (Tampa Scale of Kinesiophobia) können als Screening helfen
Was können wir als Therapeut*innen tun?
Edukation
– Verstehen hilft. Wenn Patient*innen nachvollziehen, warum sie Angst haben – und warum die Angst nicht gleich Gefahr bedeutet – beginnt Veränderung.Sicheres Bewegen ermöglichen
– Kleine, kontrollierte Bewegungen im schmerzfreien oder schmerzakzeptablen Bereich helfen, wieder Vertrauen zu entwickeln.Erfahrungen korrigieren
– Bewegung, die nicht schadet, wirkt direkt gegen das Angstgedächtnis. Je häufiger, desto nachhaltiger.Sprache bewusst wählen
– Keine Angstwörter, keine „Schäden“, kein „kaputt“. Stattdessen: Stabilität, Anpassungsfähigkeit, Belastbarkeit.Körperwahrnehmung schulen
– Wer sich selbst wieder spürt, kann sich selbst wieder bewegen.
Kinesiophobie braucht keine Konfrontation – sie braucht Sicherheit.
Das Ziel ist nicht, die Angst „wegzutrainieren“, sondern einen neuen Umgang mit Bewegung zu ermöglichen. Sanft. Selbstbestimmt. Und nachhaltig.
Fazit:
Kinesiophobie ist keine Schwäche, sondern eine erlernte Schutzreaktion. Unsere Aufgabe ist es, diesen Schutz wieder durch Vertrauen zu ersetzen – in den Körper, in die Bewegung und in die eigene Kraft.
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