Sekundärer Krankheitsgewinn – ein Tabu mit therapeutischer Relevanz

Kaum ein Begriff ist in der therapeutischen Arbeit so heikel wie dieser: sekundärer Krankheitsgewinn. Schnell klingt es nach Manipulation, nach „sich Krankstellen“, nach Drama. Und doch ist das Konzept weder abwertend noch böswillig – sondern ein psychodynamisches Phänomen, das uns hilft, chronische Verläufe besser zu verstehen.

Sekundärer Krankheitsgewinn bedeutet:
Ein Mensch erlebt durch seine Erkrankung – bewusst oder unbewusst – bestimmte Vorteile, die nicht direkt mit dem eigentlichen Symptom zu tun haben. Es geht also nicht um das Vortäuschen von Krankheit, sondern um das Erleben von positiven Nebeneffekten in einem schwierigen Zustand.

Was kann sekundärer Krankheitsgewinn bedeuten?

  • Schonung: Endlich darf man sich ausruhen, nein sagen, sich zurückziehen

  • Zuwendung: Familie, Partnerinnen oder Ärztinnen kümmern sich intensiver

  • Sinnstiftung: Die Krankheit wird Teil der eigenen Identität oder Aufgabe

  • Machtausgleich: In Abhängigkeiten wird die Erkrankung zum einzigen Hebel

  • Vermeidung: Verantwortung, Konflikte oder Überforderung können umgangen werden

All das geschieht nicht mit böser Absicht – sondern meist als Schutzstrategie des Nervensystems. Krankheit wird zu einem unbewussten Lösungsversuch in einer überfordernden Lebensrealität.

Warum ist das für uns Therapeut*innen wichtig?

Gerade in der Arbeit mit chronischen Schmerzen, psychosomatischen Beschwerden oder anhaltender Symptomlast trotz Therapieerfolgen lohnt es sich, diesen Aspekt mit in den Blick zu nehmen:

  • Warum fällt es so schwer, sich besser zu fühlen?

  • Was würde Gesundheit im Alltag tatsächlich bedeuten?

  • Welche Rolle übernimmt die Erkrankung im Familiensystem?

  • Welche Wünsche, Ängste oder ungesagten Themen hängen daran?

Die körperliche Symptomatik ist real – aber ihr Fortbestehen kann psychodynamisch stabilisierend wirken.

Wie begegnen wir dem therapeutisch?

Nicht mit Konfrontation. Nicht mit Entwertung. Sondern mit feiner Wahrnehmung, empathischer Sprache und systemischem Gespür.

Hilfreich sind:

  • Raum für Selbstreflexion schaffen, ohne Druck

  • Zugewinn von Handlungsmöglichkeiten aufzeigen – Gesundheit muss attraktiv werden

  • Körperliche Ressourcen stärken, um Sicherheit jenseits der Krankheit zu erleben

  • Biografische Zusammenhänge erkennen: Welche Rolle hatte Gesundheit oder Krankheit früher im Leben?

  • Therapeutische Sprache entlasten – ohne Schuld, aber mit Verantwortung

Haltung vor Technik

Der Begriff „Krankheitsgewinn“ sollte niemals vorwurfsvoll oder bewertend verwendet werden. Er ist kein Etikett, sondern ein Erklärungsmodell. Unsere Haltung entscheidet, ob daraus eine Tür aufgeht – oder sich ein Mensch zurückzieht.

Fazit:
Sekundärer Krankheitsgewinn ist kein Zeichen von Schwäche oder Unaufrichtigkeit, sondern ein Hinweis auf ungesprochene Bedürfnisse. Wenn wir diese respektvoll begleiten, können neue Wege entstehen – zurück in ein gesundes, selbstwirksames Leben.

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